Von zerplatzten Träumen und einer bleibenden Vision

Ein Artikel aus dem Magazin „Faszination Sylt“ 19/20

Der bunte Flickenteppich von Johanna Wagner

Johanna Wagner war viel unterwegs, ehe sie auf Sylt ein Zuhause fand: Sechs Monate Brasilien nach dem Abitur, acht Monate Peru, Bolivien und Ecuador nach der Ausbildung zur Physiotherapeutin, ein Jahr Australien während des Studiums der Integrativen Gesundheitsförderung. Sie kehrte Europa nicht den Rücken, um zu verreisen – sie tauchte über ihre Projekte in die jeweilige Welt ein. Hielt sich bei den Menschen auf, die in der Gesellschaft kaum eine Stimme hatten: Bei Familien in einfachsten Verhältnissen einer brasilianischen Kleinstadt, bei Kindern mit Behinderungen am Stadtrand von Lima, bei den Aborigines in Australiens, deren Communities mehr an einen Schrottplatz als an irgendeine Vorstellung von einem Zuhause erinnerten.

Die Erlebnisse rüttelten an ihrer Innenwelt, wühlten ihre Seele auf, stellten ihre Werte, ihre Welt, ihr alles auf den Kopf – nicht, weil sie in Down Under war, sondern „weil die Kluft zwischen arm und reich so unendlich ist, weil die Mundwinkel in Deutschland oft in die falsche Richtung zeigen und mich die Richtung, in die wir schreiten, nachdenklich stimmt“, sagt sie und hängt gedanklich ihrer Vergangenheit nach. „Heute kann ich vieles aus einem anderen Blickwinkel betrachten“.

Der Beginn des Schreibens

Damals waren die Kontraste, Eindrücke und Emotionen allerdings so laut, dass sie diese in einem Blog für Familie und Freunde in der Heimat festhielt. Schnell fanden sich immer mehr auch ihr unbekannte Leser. Diese äußerten den Wunsch, Johanna solle ein Buch aus ihren Zeilen machen. Ein nettes Kompliment, dachte sie, ehe sie verstand, was das Schreiben längst für sie geworden war: Leidenschaft, Ventil und Weckruf. In der Folge entstanden die beiden Bücher „Schlaflos in der Regenzeit“ und „Zwischen den Zeilen reisen“, veröffentlicht im Selbstverlag und mit viel Herzblut. Eine Reiseerzählung mit Tiefgang, die bis in die Seele der Leser reicht.

Auf Sylt gestrandet

Fast zehn Jahre schaukelte Johanna Wagner zwischen Heimat und Fremde, zwischen Überfluss und Einfachheit. Dieses einfache Leben kennenzulernen, war ihr Antrieb. Warum zog es sie dann ausgerechnet nach Sylt, die Insel, auf der die Klischees von Luxus, Ruhm und Oberflächlichkeit fester haften als der Sand? Weil das Leben sie dort anspülte wie ein Sandkorn. Weil der Wind sie dort hinwehte und nicht wieder abholte.

Es war eine spontane Idee im Sommer 2011. Eine Freundin arbeitete damals für eine Saison auf der Insel und fragte Johanna, ob sie Lust auf ein paar Tage Sylt hätte. „Ich steckte mitten in den Klausurvorbereitungen für eine ungeliebte BWL-Prüfung, meinem Vater ging es nicht gut und irgendwie fiel mir die Decke auf den Kopf“, erzählt sie. „Ich sagte einfach ja, ohne zu wissen, wie ich die rund 800 Kilometer zwischen Coburg und Sylt überwinden würde, legte auf und begann, eine möglichst günstige Fahrt zu organisieren – ich war ja Studentin“. Und sie war reiseerprobt. Und schon einen Tag später auf Sylt.

Gekommen, um zu bleiben

Wiedermal den Horizont verschieben, Abstand zum Alltag bekommen, auch wenn sie davon zu viel im Gepäck hatte – mehr wollte sie nicht. Doch dann kam alles ganz anders. Am letzten Abend verliebte sie sich und während Johanna schon auf dem Rückweg war, sollte ihre Freundin den Unbekannten ausfindig machen. Es gelang. Die beiden telefonierten, wurden ein Paar und Johanna zog nach Studienende auf die Insel.

So werden Lebensgeschichten geschrieben. Oder Syltgeschichten. Wenn man die Insulaner fragt, wie sie auf der Insel gestrandet sind, erhält man meist nur zwei Antworten: Der Liebe, oder der Arbeit wegen. Mit Ausnahme einer Klassenfahrt im Jahr 1999 war Sylt nie Teil von Johannas Welt. Doch die Insel eigne sich nicht für Fernbeziehungen, sagt sie. Dafür sei Sylt zu abgeschieden und die Anbindung zu langsam. Das, was den Reiz für Gäste ausmache, ist für die Regelmäßigkeit eine Strapaze.

Das Lebenspuzzle zusammenfügen

Also wieder ein Neuanfang. Erneut ankommen – auf einer Trauminsel, auf der Träume manchmal auch zerplatzen und andere viel Zeit brauchen, ehe sie wahr werden. „Es gab Phasen, da hat mich mein Leben mit all den verschiedenen Interessen und Leidenschaften an den Flickenteppich aus Wellblechhütten am Rande der 8-Millionen-Metropole Lima erinnert. Ich habe mich selbst darin verlaufen und wusste nicht, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin“, erzählt sie. Beim Schreiben des dritten Buches machte plötzlich alles Sinn: Die Auslandsaufenthalte verkörperten, was die Theorie des Studiums sie lehrte. Aus beiden Teilen formte Johanna Wagner ein neues Ganzes: Wie ein einfach bewusstes Leben im hochkomplexen Deutschland gelingen kann. Der Titel „Verlauf dich nicht“ passt zur eigenen Lebenssituation, klingt fast wie ein vorsichtiges Flüstern an sie selbst. Und sie weiß: „Was ich schreibe, ist nichts Neues. Aber es ist das, was man so schnell vergisst. Ich lese die Texte selbst immer wieder, um mich zu erinnern“. 

Wenn Träume zerplatzen und andere einfach nicht beginnen wollen

Beruflich war es keine einfache Zeit und auch privat lief es anders als gedacht. „Im Rückblick fühlt sich mein Start auf Sylt wie ein Über-Wasser-Halten an, typisch Insel eben. Es war der Versuch, im äußerlichen Zerrissenwerden die innere Mitte nicht zu verlieren; die Balance zu halten und dabei das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren“. Die verschiedenen Jobs und das Ende der Beziehung verdeutlichten, dass genau, wie sich Dinge ergeben, manche eben auch wieder zerfallen. Ja, auch so werden Lebensgeschichten geschrieben und manchmal enden die Syltgeschichten genau so.

Die Vision von eigenen Seminaren

Bleiben oder gehen? Sylt war längst zu einem Zuhause geworden. Mit Freunden, Freiheit, Beachvolleyballspielen an langen Sommerabenden und Anbaden im Januar, mit auftauchenden Illusionen, aber einer bleibenden Vision – und diese hielt sie im hohen Norden.

Schon als 15-Jährige träumte die gebürtige Nordhessin davon, irgendwann Menschen für einen gesunden und bewussten Lebensstil zu begeistern. Während man heute fast überall darauf stößt, kannte damals kaum einer den Begriff der Achtsamkeit. Dabei passen Themen wie Achtsamkeit, Stressbewältigung und digitale Entgiftung ebenso gut zu Sylt wie Gosch oder die Sansibar. „Für mich schließt sich das nicht aus. Genuss ist höchste Gesundheitsförderung“, sagt die Managerin für angewandte Gesundheitswissenschaften. „Ich möchte den Menschen weder etwas verbieten noch vorschreiben, geschweige denn etwas verteufeln – ich möchte Hintergründe vermitteln, Zusammenhänge aufzeigen und Impulse geben, wie kleine Schritte große Veränderungen bewirken“.

Das, was bisher über das geschriebene Wort und durch ihre Workshops erfolgte, wird sie auch in eigenen Seminaren vermitteln: „Wie kann ich abschalten, ins Jetzt eintauchen, die Lebensbereiche sortieren, den Fokus ausrichten, das eigene Potential leben… Am Ende steht immer eine höhere Lebensqualität. Ob man das Gesundheit, Zufriedenheit oder Glück nennt, ist mir ganz egal“.

Sylt: Naturgewalten und stetige Veränderung

Anderen Menschen dazu Impulse zu geben, dafür ist Sylt genau der richtige Ort. Der Abstand zum Alltag, der sich spätestens bei der Fahrt über den Hindenburgdamm einstellt, der Wind, der alles Verbrauchte aus den Gedanken fegt, die unfassbar schöne Natur und ihre gewaltige Kraft – all das wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Und darin liegt immer die Chance zu Veränderung und Entwicklung. Das ist es, was Johanna so sehr an der Insel liebt. Was sie selbst erfahren hat und immer wieder erlebt.

Alltagsmüdigkeit

Sie weiß aus ihrem Alltag, wie sich Stress und ständige Erreichbarkeit anfühlen und wie das im Job geforderte Multitasking den eigenen Akku leert. Sie weiß aber auch, wie weit verbreitet diese Erscheinungen sind. So schreibt sie in ihrem Buch „Verlauf dich nicht”: „Als Physiotherapeutin bin ich nah dran an den Menschen. (…) Sie erzählen von dem Spagat zwischen Privat- und Berufsleben, von der Monotonie des Arbeitslebens, das sich wie Fließbandarbeit anfühlt, ohne dass man am Fließband steht, von Rückenschmerzen und Wochenend-Migräne, von Boreout und Burnout, von der Angst, mit Mitte fünfzig keinen neuen Job zu finden, von unbezahlten Überstunden und Fünfzigstundenwochen, entgrenzter Arbeitszeit und eingezäuntem Privatleben und der unbeantworteten Frage nach dem Ausweg, weil der Lebensunterhalt bezahlt werden muss. Erst reden sie, dann schlafen sie und während sie schlafen, denke ich über das Gesagte nach: Über die Erschöpfung, die Anforderungen, das Zerrissensein und dass am Ende fast immer die Zeit für den wichtigsten Menschen im Leben fehlt: Für sich selbst. Derjenige, der längst nicht mehr weiß, wo er steht und sich nur noch fragt, wie das alles weitergeht.“

In Zukunft? Jeden Tag ankommen

Wie es für Johanna Wagner weitergeht, das ist inzwischen klar: Weitere Workshops halten, Seminare anbieten, schreiben – natürlich auf Sylt. Wie immer hat sie viele Pläne. Ja, ihr Leben ist ein bunter Flickenteppich: Aufregend und schreibt immer wieder neue Geschichten. Eine neue Liebe gibt es auch. Die hat sie am Strand gefunden. Das Leben spült so einiges an, wenn man im Wechsel der Gezeiten verweilen kann und vertraut.

Wenn sie eine Lesung ihrer Bücher beendet, sind alle Zuhörer berührt, beseelt und neugierig auf ihr nächstes Reiseziel. Doch Johanna zieht es nicht mehr weg. Sie ist längst angekommen.