„Einfach drauflosschreiben!“ ist sehr viel leichter gesagt als getan – beim Freewriting und den Morgenseiten gilt es daher erst einmal, all die Stimmen in unserem Kopf abzustellen, die sich umgehend zu Wort melden, sobald wir unsere Gedanken und Gefühle unzensiert zu Papier bringen wollen. Unser innerer Zensor zetert, die imaginäre Stimme unserer Deutschlehrerin ist empört und der Rotstift in uns einer Ohnmacht nah.
Ein Gastartikel von Christine Gräbe
Freewriting: Alles darf sein
Kein Wunder! Beim sogenannten Freewriting gilt es zu schreiben, wie wir es nie gelernt haben: ohne auf Rechtschreibung, Satzzeichen oder Groß- und Kleinschreibung zu achten, und ohne über die „richtige“ Formulierung nachzudenken.
Beim Freewriting gilt es genau das Gegenteil zu wagen: Schreiben, wie uns der Schnabel gewachsen ist, Sätze und Wörter ohne Sinn und Zusammenhang zu Papier bringen, so unleserlich krakeln, dass nicht einmal wir selbst unsere Handschrift später noch entziffern können. Dabei ist alles erlaubt, selbstverständlich auch, entnervt zu notieren, dass wir keine Ahnung haben, was wir aufschreiben sollen oder was dieses Schreibexperiment überhaupt soll. Der Unmut darüber kann getrost so lange wiederholt werden, bis unversehens das nächste Wort, der nächste Satz, der nächste Gedanke aufs Papier finden. Alles ist erlaubt, alles darf sein.
Durch Freewriting den inneren Zensor beschwichtigen
Ganz allmählich, Satz für Satz und Seite für Seite, wird es uns immer besser gelingen, die notorischen Besserwisser in unserem Kopf verstummen und die Worte fließen zu lassen. In diesem Fluss können wir unausgesprochene Gedanken und Gefühle unzensiert aufschreiben, können die Erinnerung an einen Traum, die Begegnung mit einer Freundin oder den Streit mit unserem Partner ungefiltert aufschreiben, um uns selbst auf die Spur kommen.
Schreiben, ohne den Stift abzusetzen
Am besten funktioniert das Freewriting, das auch intuitives, automatisches oder achtsames Schreiben genannt wird, wenn wir zuvor festlegen, über welchen Zeitraum wir schreiben oder welche Menge an Seiten wir füllen wollen. Das Entscheidende dabei ist, diese fünf oder zehn Minuten, drei oder sechs Seiten lang zu schreiben ohne innezuhalten, ohne nachzudenken und ohne den Stift abzusetzen. Beim Freewriting geht es ausschließlich um den Inhalt, nicht um die Form. Diese Seiten schreiben wir nur für uns, nicht um sie anderen zu zeigen oder gar zu veröffentlichen. Bestenfalls lesen wir sie nicht einmal selbst, und wenn, dann erst mit einigem zeitlichen Abstand.
Grundsätzlich gilt:
Freewriting und Morgenseiten – alles ist alles erlaubt! Vorausgesetzt, du beachtest die folgenden Regeln:
- Plane deine Schreibzeit bewusst: Überlege dir, wie viele Minuten oder Seiten du schreiben möchtest. Stelle dir einen Timer.
- Schreibe im Fluss: Schreibe möglichst ohne den Schrift abzusetzen auch wenn dir nichts einfällt. Schreibe, dass dir nichts einfällt bis, der nächste Gedanke kommt.
- Erlaube dir, alles zu schreiben: Schreibe alles auf, was dir in den Sinn kommt. Alle Gedanken, Gefühle und Ideen sind erlaubt. Verbiete dir nichts, auch wenn es dir unsinnig, zu persönlich oder „falsch“ vorkommt.
- Erlaube dir Fehler: Schreibe ohne auf Rechtschreibung, Grammatik oder Logik zu achten. Unleserlichkeit ist erlaubt.
- Lass alles stehen: Überarbeite deinen Text nicht und zeige niemandem, was du geschrieben hast. Am besten legst du das Geschriebene erst einmal unbesehen beiseite.
- Höre einfach auf: Wenn du am Ende der Schreibzeit oder deiner Seiten angelangt bist, lege Stift und Papier beiseite – unabhängig davon, ob du gerade mitten im Wort oder Satz bist.
Ganz gleich, ob du regelmäßig morgens oder zu bestimmten Themen schreibst: Je öfter du dich im Freewriting übst, desto leichter wird es dir fallen, in den Schreibfluss zu finden.
Morgenseiten: Wenn der innere Zensor noch schläft
Vielleicht kann das Argument, dass niemand jemals zu lesen bekommt, was wir da schreiben, auch unsere inneren Kritiker und Kritikerinnen beruhigen. Denn deren Stimmen können unangenehm laut werden, sobald wir den Stift aufs Papier setzen:
„Wen soll das denn interessieren?“
„Willst du das wirklich so schreiben?“
„Du machst ganz schön viele Fehler!“
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“
„Hoffentlich liest das später niemand …“
Morgenseiten als Praxis des intuitiven Schreibens
Diese vielen Stimmen zu überhören, ist zu keiner Tageszeit einfach. Am leichtesten gelingt uns das direkt nach dem Aufstehen, wenn wir noch nicht in den Tag gestartet sind. Die Morgenseiten sind die vielleicht bekannteste Praxis des intuitiven Schreibens. Ihre Erfinderin, die amerikanische Schreiblehrerin, Autorin und Journalistin Julia Cameron ist davon überzeugt, dass wir mithilfe regelmäßig geschriebener Morgenseiten kreativer werden und Schreibblockaden überwinden können.
Tatsächlich können sich die Morgenseiten wie eine innere Dusche anfühlen. Wenn ich das Chaos im Kopf morgens unzensiert und ohne Nachzudenken zu Papier bringe, gehe ich freier, sortierter und klarer durch den Tag. Die Methode zu üben und einmal über mehrere Tage auszuprobieren hilft, sich selbst immer besser auf die Spur zu kommen: Das Drauflosschreiben ist ein wunderbarer Achtsamkeitskeits-Komplize, um nach innen zu lauschen, sich mit sich selbst zu verbinden und Mitgefühl mit sich selbst und anderen zu üben.
Christine Gräbe ist Literatur- und Buchwissenschaftlerin und arbeitete viele Jahre als Lektorin, Übersetzerin, Texterin, Herausgeberin und Schreibcoach in der Buchbranche. Sie gründete einen Verlag und ist Ghostwriterin, Redenschreiberin und PR-Beraterin. Christine lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
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