Indem wir schreibend innehalten, können wir die Zeit für einen kleinen Augenblick überlisten zu verweilen und – wie beim Meditieren – ganz im Hier und Jetzt ankommen. Ob morgens im Bett oder abends am Schreibtisch, im Kaffeehaus oder Bordbistro, ob Tagebuch, Gedicht oder Brief: Wir brauchen nicht mehr als einen Stift, ein bisschen Papier und ein paar Minuten Zeit, um unseren Achtsamkeitsmuskel zu trainieren.
Ein Gastartikel von Christine Gräbe
Die Verbindung von Achtsamkeit und Schreiben
Schreibend können wir:
- uns in Gegenwärtigkeit üben
- unseren Anfängergeist schulen
- Wertneutralität erproben
- unsere Aufmerksamkeit lenken
- unsere Gefühle und Gedanken erkunden und benennen
- in Verbindung mit uns und anderen gehen
- den Dingen eine andere Bedeutung verleihen
- neuen Gedanken Raum geben
- die Außenwelt und uns selbst besser verstehen
- unsere Selbstwirksamkeit stärken
Schreiben als Achtsamkeitspraxis
Möglich ist das beispielweise, indem wir Haikus oder Elfchen nach strengen Vorgaben dichten, indem wir das gänzlich entgegengesetzte, sogenannte Freewriting üben, das auch als achtsames, intuitives oder automatisches Schreiben bezeichnet wird, oder indem wir unsere Vergangenheit oder Zukunft beschreiben. Achtsame Schreibtechniken können also ganz unterschiedlich aussehen. Einige von ihnen stellen wir euch in drei Beiträgen auf diesem Blog vor.
Zeile für Zeile zur achtsamen Haltung –
achtsam schreiben (1/3)
Unseren inneren Autopiloten auszuschalten und stattdessen mit allen Sinnen wahrzunehmen, was jetzt gerade ist, in genau diesem Augenblick, ist nicht immer leicht. Helfen können uns auf dem Weg ins Hier und Jetzt Atemübungen, Meditationen oder Yoga. Bei diesen Methoden halten wir bewusst inne, versuchen uns auf unseren Körper zu konzentrieren und kommen so unseren Gedanken und Gefühlen leichter auf die Spur. Doch auch indem wir schreiben, lässt sich Achtsamkeit üben.
Das Außen achtsam wahrnehmen: Anfängergeist üben
Auch mit Stift und Papier können wir die Welt ganz bewusst wahrnehmen, ohne sie zu bewerten. Schreibend können wir unsere Aufmerksamkeit in die Gegenwart lenken und unseren Anfängergeist schulen: Was sehe ich, was rieche ich, was höre ich? Wie würde ein Kind beschreiben, wie sich das, was ich gerade wahrnehme, anfühlt? Mit welchen Worten könnte ich einem Außerirdischen schildern, was ich gerade schmecke oder ertaste?
Indem wir uns ganz auf den Moment und unsere Wahrnehmung einlassen, können wir unsere Erlebnisse und Beobachtungen vorurteilsfrei, interessiert und neugierig beschreiben – in unseren ganz eigenen Worten, in unserer ganz eigenen Sprache und auf unsere ganz eigene Weise. Gefragt ist dabei weder sprachkünstlerisches Talent noch schriftstellerisches Genie. Worauf es vor allem ankommt, ist die achtsame Haltung des Nicht-Wissens, in der wir den Dingen wieder zum ersten Mal begegnen können.
Mit Haikus und Elfchen den Moment einfangen
Um diese Haltung zu üben, können Strukturen helfen, die ein mehr oder weniger strenges Gerüst vorgeben. Kurze Gedichtformen wie das japanische Haiku, das traditionell aus 17 Silben besteht, oder das niederländische Elfchen, in dem nach einem festen Muster aus elf Wörtern fünf Zeilen entstehen, können ein guter Schreibeinstieg sein – für ungeübte genauso wie für geübte Schreibende. Innerhalb klarer Vorgaben können wir uns ganz darauf konzentrieren, zu beschreiben, was wir wahrnehmen, ohne es zu bewerten. Hinzukommt: Unsere Kreativität lässt sich innerhalb klarer Grenzen oft leichter hervorlocken als im gänzlich freien Raum. Am Ende halten wir nicht selten Zeilen in Händen, die uns noch lange später min wenigen Worten an unsere Gedanken und Gefühle in einem ganz bewusst wahrgenommen Moment erinnern, seien es der Spaziergang im Wald, der Sonntagmorgen mit unserer Familie oder der Sonnenuntergang am Meer.
Mit Stift und Papier ins Hier und Jetzt
Zeile für Zeile üben wir die Wertneutralität, den Anfängergeist und die Gegenwärtigkeit einer achtsamen Haltung. Je öfter wir unseren Achtsamkeitsmuskel trainieren, desto leichter wird es uns gelingen, unserem inneren Autopiloten das Steuer aus der Hand zu nehmen – und mit Stift und Papier im Hier und Jetzt anzukommen.
Auch indem wir uns an unsere Vergangenheit erinnern oder unsere Träume für die Zukunft aufschreiben, können wir uns in Achtsamkeit üben. Hier mehr lesen.
Christine Gräbe ist Literatur- und Buchwissenschaftlerin und arbeitete viele Jahre als Lektorin, Übersetzerin, Texterin, Herausgeberin und Schreibcoach in der Buchbranche. Sie gründete einen Verlag und ist Ghostwriterin, Redenschreiberin und PR-Beraterin. Christine lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
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1 Kommentar
Schreiben ist eine wunderbare Methode, um Gefühle auszudrücken, vielleicht auch zu lesen, die ansonsten unterdrückt bleiben und uns so bedrücken. Eine tolle Anregung!