Alleine reisen ist Persönlichkeitsentwicklung

alleine reisen als Frau

„Du willst alleine reisen? Hast du keine Angst?“ Wie oft habe ich diese Fragen vor meiner Abreise nach Südamerika gehört … Und ich konnte sie schlicht nicht nachvollziehen. Das war in den Jahren 2005 und 2009. Damals hatte ich meine inneren Gründe, die so groß waren, dass da gar kein Platz für Angst war. Heute stelle ich fest, dass ich diese Frage manchmal selbst an mein altes Ich richte.
Und doch: Ich würde es immer wieder tun und auch andere dazu ermutigen. Denn alleine zu verreisen erweitert den Horizont nicht nur im geographischen Sinne und ermöglicht somit Persönlichkeitsentwicklung auf besondere Weise.

Alleine reisen

Wer alleine verreist, ist zunächst auf sich gestellt: Man muss selbst auf das Reisegepäck aufpassen, Entscheidungen allein treffen, Abfahrten organisieren, Unterkünfte finden etc.. Doch ich habe die Erfahrung gemacht, dass man überall hilfsbereiten Menschen begegnet. Was für einen selbst die Fremde darstellt, ist für andere der Alltag. Man taucht ein und wird Teil – und wenn es nur für einen kurzen Augenblick ist, in dem wir die Frage nach dem richtigen Bus stellen. Im Prinzip sind wir nirgends wirklich allein unterwegs. Wir können mit Fremden ins Gespräch kommen, ein Stück des Weges gemeinsam gehen oder mit anderen Reisenden ein paar Tage gemeinsam unterwegs sein.

Wenn wir alleine reisen, sind wir achtsamer

Wer alleine unterwegs ist, ist aufgeschlossener für Begegnungen. Der Austausch mit Unbekannten und sich für kurze Zeit auf deren Welt einzulassen, kann sehr bereichernd und erfüllend sein. Wir lernen andere Lebensweisen und neue Perspektiven kennen.
Außerdem nehmen wir die Umgebung achtsamer wahr, da wir nicht mit vertrauten Personen in Gespräche vertieft sind. Je weniger uns ablenkt, desto einfacher entdecken wir große Landschaften und kleine Details, und erleben somit intensiver.
Ein Reisetagebuch zu führen hilft, die Erlebnisse und Gedanken zu sortieren und zu verarbeiten. Außerdem erschafft man sich damit eine wunderbare Erinnerung an eine besondere Zeit. Bei mir sind aufgrund meiner Aufzeichnungen ungeplant meine ersten beiden Bücher entstanden.

Alleine verreisen und bei sich ankommen

Und doch: Wer alleine verreist, bleibt immer wieder mit sich selbst zurück. Sowohl in schwierigen Augenblicken (in dunklen, menschenleeren Straßen oder wenn man die Unterkunft nicht findet) als auch in den schönsten Momenten (wenn man den Berggipfel erreicht oder genüsslich eine Tasse Tee trinkt). Dann wünscht man sich jemanden an seiner Seite, mit dem man die Situation und die eigenen Gedanken und Gefühle teilen kann.
Doch wenn man es schafft, diese manchmal auch schwierigen Phasen mit sich selbst durchzustehen und auch die tollsten Aussichten ganz für sich allein zu genießen, dann ist man beim Unterwegssein bei sich angekommen.

Alleine verreisen ist Persönlichkeitsentwicklung

Wer alleine verreist verbringt viel Zeit mit sich selbst und erweitert den Horizont auf vielen Ebenen. Werte verschieben sich, man wächst an herausfordernden Situationen und gewinnt neue Erkenntnisse.
Das ist der Grund, warum das Alleinreisen stärker, unabhängiger und zuversichtlicher macht und Persönlichkeitsentwicklung ist. Man findet sich zurecht: In sich selbst mit sich selbst. Aber auch da draußen in der – für uns – unbekannten Welt.

Alleine reisen als Frau

Alleine reisen als Frau bringt in manchen Ländern besondere Herausforderungen mit sich, da man von Fremden oft zweideutig angequatscht wird. Ich habe selbst Momente erlebt, in denen ich plötzlich kein klares Bauchgefühl hatte und meine Menschenkenntnis den kulturellen Unterschied nicht einordnen konnte. Doch aus der Not heraus habe ich mich auf den Menschen eingelassen, der mir seine Hilfe angeboten hatte.
Diese Spannung zwischen Abenteuer und Risiko sowie Gelingen und Glücksmomenten ist Herausforderung und Reiz zugleich, wenn man alleine reist. Durch die richtige Vorbereitung über Land und Leute, das Vertrauen in die eigene Intuition sowie eine angemessene Vorsicht zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten, habe ich mich jedoch meistens sehr sicher gefühlt, auch wenn ich als Frau allein durch Südamerika gereist bin.

Gruppenreise für Alleinreisende als Einstieg

Schließlich geht es vielleicht genau darum, die eigene Komfortzone zu verlassen und dadurch innerlich zu wachsen.
Wer Angst vor dem Alleinreisen hat, kann mit kleinen Unternehmungen anfangen. Kurze Ausflüge in die Nähe oder sich einer Reisegruppe für Alleinreisende anzuschließen, können erste Schritte sein. So ist man mit zunächst unbekannten Menschen unterwegs und zugleich nicht auf sich allein gestellt. Es gibt Organisationen, die sich auf das Angebot für Gruppenreisen für Alleinreisende spezialisiert haben. Bei dieser Form des Reisens ist man gemeinsam unterwegs und hat doch immer wieder Zeiten für sich.

Gruppenreise für Alleinreisende

An meinen Achtsamkeitskursen nehmen überwiegend Alleinreisende teil. Somit biete ich heute gewissermaßen selbst die Möglichkeit einer Gruppenreise für Alleinreisende an. Natürlich nehmen an meinen Seminaren auch Paare (Pärchen, Geschwister, Freund*innen) teil, doch die meisten Personen reisen allein nach Sylt und während der Achtsamkeitswoche zu sich selbst. Denn darum geht es in meinem Angebot: Unterwegs sein und bei sich selbst ankommen. So, wie ich es selbst erlebt habe.

Aspekt Nachhaltigkeit

Im Sinne der Nachhaltigkeit würde ich Fernreisen mit dem Flugzeug nur dann unternehmen, wenn man mehrere Monate dafür Zeit hat. Ansonsten erreicht man auch mit der Bahn oder zu Fuß spannende Orte. Letztlich geht es beim Alleinreisen mindestens genauso sehr um das innere Entdecken, auch wenn das vielleicht nicht die vordergründige Absicht ist.

Alleine reisen als Frau: Mein Reisetagebuch

„Dass das Sammeln immaterieller Momente viel leichter ist, aber wesentlich schwerer wiegt, ist wohl die beste Erkenntnis meiner Reise. Denn das Substanzlose erschwert den Rucksack nicht, aber bereichert die Seele.

Reisen bedeutet, leben lernen.
Das Leben selbst als Reise zu begreifen.
Denn die kleine Reise ist ein Sinnbild der großen Reise.“

Aus meinem Buch „Zwischen den Zeilen reisen

Potosí und der reiche Silberhügel – die Narben unserer Welt

Slberhügel von Potosí

Potosí: Mit 170.000 Einwohnern auf über viertausend Höhenmetern gelegen, ist Potosí die höchstgelegene Großstadt der Welt. Sie ist bekannt für ihren Cerro Rico, ihren reichen Silberhügel. Ebenso reich wie an Silber, ist er an Menschen, die in ihm ihr Leben verloren haben. Noch heute schürfen die Bergmänner unter unmenschlichen Bedingungen unter der Erde, aber viertausend Meter über dem Meeresspiegel,­ nach Zinn, Kupfer, Blei und den letzten Silberresten.

Dieser Artikel ist ein Text aus meinem Buch Zwischen den Zeilen reisen – eine südamerikanische Reiseerzählung mit Impulsen für ein einfaches, nachhaltiges und gerechtes Miteinander in einer globalen Welt.

Übersicht

03. Juni 2010

Tour in die Minen von Potosí

Potosí

Minenmarkt von Potosí

Pflichtgemäß halten Ana, mein Guide und ich, am Mercado de los Mineros, dem Minenmarkt, wo wir einige Mitbringsel für die Bergleute und die Bestandteile für das Minenritual erwerben: Coca-Blätter, filterlose Zigaretten, 96-prozentiger Alkohol, und da man hier legal Sprengstoff beschaffen kann, kaufen wir auch Dynamitstangen und Zündschnüre.

Potosí - Minenmarkt

An der Mine angekommen, rüstet mich Ana mit Gummistiefeln,­ Gummihose und einer Jacke aus. Eine zweite schützende Haut, die für die Bilder, Worte und Emotionen der kommenden Stunden viel zu undicht ist. Sie setzt mir einen Helm auf und befestigt eine Lampe daran. Auf den ersten Blick sehe ich nun aus wie einer der Mineros – auf den zweiten Blick so gar nicht!

Potosí

Die Geschichte der Mine von Potosí

Wie alles begann

Nur vereinzelte Geräusche der Stadt erreichen die an einen Friedhof erinnernde Stille, die hier oben bedrückend die Stimmung beherrscht, als Ana zu erzählen beginnt: »Es war einmal der indianische Hirte Huallpa …«, beginnt sie, als sei alles, was nun folgt, nur ein erfundenes Märchen. Dabei wird sie mir eine der grausamsten Geschichten unserer Geschichte erzählen. »Dieser ließ im Jahr 1544 seine Lama-Herde auf dem unbewohnten Altiplano weiden. Als er am Abend bemerkte, dass eines seiner Tiere fehlte, beschloss er ein Feuer zu entzünden und in der Einöde, unter der bald das heutige Potosí entstehen würde, zu schlafen. Am nächsten Morgen war seine Herde noch immer nicht vollzählig, doch funkelte und glitzerte der Ort seiner Feuerstelle und silberne Tränen liefen den Berg hinunter«. Es ist nur eine von vielen Theorien über die Entdeckung der Silbermine, doch diese hält sich am beharrlichsten.­

Kaiserstadt Potosí

Kurze Zeit später befahlen die Spanier die Indios in den reichen Berg und beuteten diese in gleicher Weise aus wie den Cerro, unter dem sie am 10. April 1545 nur wenige Höhenmeter tiefer die Stadt Potosí gründeten. Nur acht Jahre nach der Gründung wurde Potosí zur Kaiserstadt ernannt, deren Wappen die Worte Ich bin das reiche Potosí, Schatzkammer der Welt, König der Berge, den Königen diene ich zum Neid zierten. Unterdrückung, Sklaverei und Massenmord standen Prunksucht, Gier und Ausbeutung gegenüber. Der Luxus der Einen, waren die Qual, die Folter und schließlich der Tod der Anderen.

Reichtum und Wachstum

Potosí war plötzlich reich, Potosí war groß und wurde stets reicher und hörte auch nicht auf zu wachsen. Eine immer größere Menschenmasse nahm die widrigen Bedingungen des Hochlandes ­bereitwillig auf sich und bewohnte die Stadt mit den vergoldeten Kirchen und den zahlreichen Lokalen. Sogar das Straßenpflaster­ bestand bald schon aus Silber. Nur einhundert Jahre nach der Stadtgründung zählte Potosí mit etwa 150.000 Einwohnern zu den größten und reichsten Städten der damaligen Welt.

Das Massengrab von Potosí

In einem Umkreis von über einhundert Kilometern suchten die Konquistadoren nach indigenen Arbeitskräften und entrissen die Männer ihrer Heimat. Der reiche Berg sollte für kurze Zeit ihr Zuhause werden. Einmal in der Dunkelheit gelandet, war es für die meisten das letzte Mal, dass sie frei und Mensch sein durften. Nur mit Coca-Blättern, Wasser und Sprengstoff ausgestattet, begannen sie ihre Arbeit, die fast immer der Tod beendete. Unaufhörlich sandten die Spanier die Indios in die immer tiefer führenden Stollen. Hinein in einen Zustand der Erschöpfung, in die Hölle auf Erden. Namenlos durch andere ersetzt, entstand binnen weniger Jahre ein gigantisches, anonymes Massengrab.

Angst und Ausweglosigkeit

Ana erzählt, dass Mütter ihre neugeborenen Söhne töteten und Männer sich als Frauen verkleideten, um dem von den Spaniern auferlegten Schicksal zu entkommen. Doch sie entdeckten jeden. So lange, bis in der weiten Umgebung kein Mann indigener Abstammung mehr auffindbar war und afrikanische Sklaven die unmenschliche Arbeit verrichten sollten. Doch diese erlagen der sauerstoffarmen Höhenluft.

Graf Lemos, der Vizekönig von Peru, schrieb im Jahr 1699: Nach Spanien wird nicht Silber, sondern Indianerblut und Indianerschweiß verschifft und der spanische Minenbesitzer Luis Capoche sagte: »Der arme Indio ist eine Währung, mit der man alles bekommt, was man braucht, wie mit Gold und Silber, nur viel besser«.

Mir wird schlecht

Nach Eduardo Galeano, einem uruguayischen Schriftsteller, sollen bis in das 18. Jahrhundert etwa acht Millionen Menschen ihr Leben in der Mine gelassen haben. Um diese abstrakte Zahl zu veranschaulichen, nutzt Ana eine Metapher: »Einer Legende zufolge können zwischen Potosí und Spanien zwei Brücken errichtet werden: Eine aus Silber bestehend, die andere aus den Knochen der krepierten Arbeiter«.

Dann schweigt sie und lässt mich mit dem Bild, das mein Kopf ganz unaufgefordert malt, allein. Ich versuche die Zahl zu schlucken, aber mein Körper will sie nicht verdauen. Irgendwo zwischen Kopf und Magen bleibt sie hängen und stellt sich quer. Mir ist schlecht. Ich will das Gehörte ausspucken, aber es hämmert sich in jede meiner Zellen ein.

Als der Silberstrom in Potosí versiegte

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versiegte der Silberstrom und mit ihm die am Fuß des Cerros gelegene Stadt, die er nährte. Menschen und Prunksucht verschwanden ebenso schnell, wie sie einst auftauchten, die Blüte der Stadt verwelkte so rasch, wie sie erschien. Und als die Geschäfte nicht mehr rentabel waren, versank die Stadt in Armut. … und da sie nicht gestorben ist, ist Potosí heute eine arme Stadt in einem armen Land, die jedoch noch immer von ihrer Mine abhängt.

Meine Geschichte in der Mine

Vor dem sandfarbenen Berg sortieren kleine Kinder und alte Bolivianerinnen die Gesteinsreste, die die Mineros aus der Mine förderten. Wie die Figuren des Märchens selektieren sie nur die Guten ins Töpfchen. Gekonnte Handbewegungen strahlen Routine aus. Versunken in den Gesteinen bezeugen die verschiedenen Generationen den Kreislauf eines Lebens in Potosí: Alles dreht sich um die Mine. Und nach wie vor im Kreis.
Denn noch heute arbeiten mehr als zehntausend Bergleute in den Stollen und suchen nach den letzten Resten der Mineralien. Darunter sind etwa eintausend Kinder.
Viele Arbeiter steigen bereits im Kindesalter das erste Mal in die dunkle Tiefe, wo sie die Jugend überspringen und nur wenige Jahre erwachsen sind, bevor ihr Antlitz dem Gesicht eines Greisen gleicht. Es ist ein Leben im Zeitraffer.

Vor dem Cerro Rico

Indianische Riten und Missionarsabsichten

Auch wir gehen zu einem der Schächte, die den Beginn von mehr als tausend Stollen darstellen und den Berg durchziehen wie Adern den Körper. Niemand weiß genau, wie viele Tunnel existieren. Ana zeigt auf den Eingang der Mine und verweist auf die dunklen Spuren, die ihn rahmen: »Über viele Jahre hinweg versuchten die Spanier die Indios zu missionieren. Die Indios, die weder etwas vom Papst noch vom Teufel gehört hatten, lebten ihren eigenen Glauben. Noch heute opfern sie an einem Tag des Jahres Pachamama, ihrer Gottheit Mutter Erde, ein weißes Lama und schütten dessen Blut an die Häuser und die Eingänge der Mine. Dieser indianische Ritus soll Glück und Reichtum bringen«.

Mein Blick klettert die Holzleiter herab und verliert sich nach wenigen Sprossen im schwarzen Nichts. Ana dreht meine Stirnlampe an. Ein kleiner Kreis bringt viel zu wenig Licht ins Dunkel.

Abtauchen ins Stollensystem des Cerro Rico

Wir klettern zwanzig Sprossen nach unten. Hinunter in die Enge, in das Schwarz, in den Geruch von Giftstoffen und den nicht wahrnehmbaren und dennoch unverkennbaren Geruch von Tod. Innerlich und äußerlich taucht ein Gefühl von Beklemmung auf. Nur nicht darüber nachdenken, denke ich, während ich darüber nachdenke. Ich möchte zumindest für einige Stunden erleben, wie die hier arbeitenden Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit verbringen. Ich möchte hinschauen und in die Vergangenheit reisen, nicht kneifen, wo andere es nicht dürfen.
Weiter nach unten, wo die Luft dünner und das Dunkel noch schwärzer ist. Die Tunnel werden enger und schon nach wenigen Schritten undurchschaubar. Ich verliere die Orientierung, die ich nie hatte. Jedes Zurück würde schon jetzt zu viele Möglichkeiten bieten. Ich bin angewiesen auf Ana, wir beide auf unsere Lampen. Nur nicht darüber nachdenken, durchfährt es mich erneut, nur vertrauen – auch wenn das hier so ungemein schwer fällt.

Potosí: Wo der Teufel ein Freund ist

Mit jedem weiteren Schritt steigen die Temperaturen stetig bis auf fünfunddreißig Grad an. Die Hölle verwehrt der eisigen Kälte des Hochlandes den Zutritt. Hier herrscht Hitze. Ein Fegefeuer, das eine Teufelsfigur bewacht. Am Ende des Tunnels leuchtet meine Grubenlampe plötzlich in ihr Gesicht. Ich erschrecke!

Der tio von Potosí

Schutzpatron der Bergleute, der tio

Ana erzählt, dass die Spanier die Figur in die Mine stellten, damit diese die ungläubigen Indios einschüchtere, bei der Arbeit beobachte und im besten Fall vor dem nahenden Tod zum christlichen Glauben bekehre. Für die Mineros hingegen, die den Glauben der ­­Konquistadoren nicht kannten, war die Teufelsfigur von Anbeginn ein Schutzpatron, den sie noch heute als tio, Onkel, betiteln. Für sie ist er Freund und Mitstreiter, Vertrauter und Gehilfe, bei dem sie an jedem Freitag das Minenritual abhalten, damit er die Freundschaft pflegt und mit dem Finden von Venen und dem Überleben belohnt.

Minenritual von Potosí

In absoluter Finsternis thront der tio gespenstisch in einer kleinen Grotte. Nur die Lichtstrahlen unserer Lampen lassen ihn erleuchten: Vergilbte Luftschlangen bilden sein Haar, Coca-Blätter sein grünes Kleid. Rotleuchtende Augen erwidern Angst einflößend meinen Blick, die Nase ist vom Zigarettenqualm verkohlt. Konfetti, ­Zigarettenstummel, leere Schnapsflaschen und Bierdosen zieren den Boden und bestimmen den Geruch. Runzelige Luftballons baumeln im stickigen Raum. Wie aus der gesamten Mine, ist auch aus ihnen jede Luft gewichen – Sinnbild der Vergänglichkeit, du passt hier her …

Auch wir begrüßen den gehörnten Berggott und führen den Ritus durch, um wieder Tageslicht erblicken zu dürfen. Ein komisches Gefühl dies hier zu erbitten, aber ich möchte mich nicht mit dem Teufel anlegen und schon gar nicht an diesem Ort.

Der tio vpn Potosí

Wir kleiden ihn mit Coca-Blättern ein und gießen großzügig die 96-prozentige Flüssigkeit über seine Schultern, Hände, Knie und auf den Boden, denn wie immer erhält auch Pachamama ihren Anteil. Und weil die Bergmänner glauben, dass der tio und Pachamama in der Nacht neue Venen zeugen, begießen wir auch des Teufels bestes Stück, um so die Fruchtbarkeit zu wahren. Dann einen Schluck für uns. Pur soll man ihn trinken, damit die Mineralien ebenfalls rein sind. 96-prozentiger Zuckerrohrschnaps rennt und brennt meine Kehle hinunter – das ist der einzige Weg, den ich heute problemlos verfolgen kann. Zuletzt ziehen wir an der Zigarette, bevor Ana sie dem Teufel glimmend in den Mund steckt. Er darf zu Ende rauchen, während wir diesen seltsam anmutenden Ort verlassen und den Teufel wieder seiner Dunkelheit übergeben.

Das Labyrinth von Potosí

Wir gehen weiter dem Nichts folgend, immer weiter in es hinein. Stapfen durch knietiefes Wasser, krabbeln durch nicht einmal ein Meter hohe Gänge und müssen immer achtsam sein, nicht in einem der Löcher zu versinken. Das Geräusch unserer Schritte schallt die Stollen entlang, die längst noch nicht sichtbar sind. Wie die Äste eines Baumes verzweigen sie sich und haben alle eines gemeinsam: In ihnen durchleben die Mineros die Jahreszeiten der Gefühle. Stets von der Hoffnung auf eine reiche Ernte getrieben und getragen, verbringen sie oft mehr als zehn Stunden in den kilometerlangen Tunneln der Mine. Für mich ist sie ein lebendiges Ungeheuer.

Aus den unterschiedlichen Stockwerken ertönt mal aus der Nähe, mal aus der Ferne, mal lauter, mal leiser, das donnernde Rollen der gerölltransportierenden Wagen, fast, als würde der Magen des Monsters knurren. Unter primitiven Bedingungen, die sich in den vergangenen vierhundert Jahren kaum verändert haben, ­transportieren die Bergmänner den Abraum ganz ohne ­Maschinenantrieb über die Holzgleise zu den Schächten, wo sie ihn an die Erdoberfläche befördern.

Staublunge

Aufgrund der verschiedenen Mineralien leuchten die Wände in unterschiedlichen Farben und glitzern mit giftigen Tropfen. Staub, Asbest und toxische Dämpfe schweben im Kanalsystem der Mine und durchziehen mit jedem Atemzug das Bronchiensystem meiner Lunge. Der eigene Körper verschmilzt mit dem Körper der Mine. Nach nur einer Stunde fühlt er sich vergiftet an. Ohne Atemmaske sind die Arbeiter diesen toxischen Gasen ihr gesamtes Leben ausgesetzt. Die Staublunge ist die häufigste Todesursache. Sie beendet das Leben etwa zehn bis fünfzehn Jahre vor dem bolivianischen Durchschnitt.

Hoch, runter, links, rechts, vor, zurück, diagonal. Je weiter wir gehen, umso größer ist die Gefahr, sich und das eigene Leben in den Tunneln zu verlieren. Die Mine ist ein Labyrinth ohne Ausweg. Es gibt nur den Weg zurück – und wird dieser nicht gegangen, weint der Berg heimlich ein paar weitere seiner silbernen Tränen.

Mineros von Potosí

Wie Maulwürfe haben die Mineros den Berg in den vergangenen Jahrhunderten durchbohrt, durchsprengt, durchsucht, durchfunden – und verloren. Mittlerweile ist er derart ausgehöhlt, dass mich die Angst, die Mine könne in sich zusammen stürzen, unentwegt begleitet. Ihr Skelett ist osteoporös. Doch noch hält es. Hält aus und trägt, wie die Arbeiter aushalten und ertragen. Sie sind die ­Blutkörperchen des Ungeheuers: Rot und weiß und doch alle grau. Arbeiten ununterbrochen in seinen Gefäßen, befördern zu wenig Sauerstoff und tragen den Plaque ab.
Tag und Nacht.
Zehn Stunden am Stück – dann kommen andere.
Vierzig Jahre – dann kommen andere.
Fünfhundert Jahre – es werden immer andere kommen …
Dialyse der Mine.

Ihr eigenes Leben ist längst in den Hintergrund gerückt. Es dient dem Überleben ihres Wirts, dessen Kreislauf nicht kollabieren darf, während sie selbst allmählich sterben. Sie trinken, sie rauchen, sie konsumieren. Sie hämmern, sie sprengen und wenn sie Glück haben, finden sie. Wir finden sie.

Das Stollensystem der Mine

Ana beginnt ein Gespräch, und als die Bergmänner ihre Werkzeuge aus der Hand legen und fragen, woher ich komme, werden die Blutkörperchen zu Menschen, die sich doch von allen unterscheiden, die mir bisher begegneten. Wie eine eigene Spezies passten sie sich über Generationen der Mine an. Mit ihrer gekrümmten Haltung, der grauen Kleidung und dem grauen Helm tarnen sie sich vor den steinernen Wänden.

Kreislauf

Sie sind klein und gezeichnet, ihre Hände rau und verletzt. Ihre Mienen sind ein Abbild der Mine: Ausgehöhlt, grob und zerfallen. Müde Augen, die denen eines Hundertjährigen gleichen, blicken leblos in die Dunkelheit. Das Leben hat sie müde gemacht. »Ich arbeite hier schon seit der Kindheit. Ich musste meinem Vater helfen, wie er seinem Vater. Nur so konnte unsere Familie überleben. Das ist illegal, aber interessiert niemanden. Damals nicht und heute auch nicht.«, erzählt einer der Bergmänner.

Coca-Blätter

Seine Backentasche ist ausgebeult, mit Coca-Blättern gefüllt. Er trägt seinen Motor im Mund, der die knochenharte Arbeit überhaupt ermöglicht. Die Zähne und Lippen sind vom ständigen Konsum tiefgrün verfärbt. Die Hojas de Coca halten wach, steigern die Leistungs­fähigkeit, rauben das Gefühl von Hunger und machen die dünne Luft erträglicher. Sie sind das einzige, was die Mineros zu sich nehmen. Blatt für Blatt schieben sie in ihre Wange, vier Stunden lang, dann lässt die Wirkung nach. Die grüne Masse wird ausgespuckt, unmittelbar durch Neue ersetzt.
So, wie alles im Cerro eben schon immer war.

Minero von Potosí

Monotonie der Mine

Ohne Frust, aber auch ohne jede andere Emotion schildern die Bergmänner ihr Dasein: Sich in die Mine abseilen, Stunde um Stunde mit Hammer und Meißel Löcher in die steinernen Wände schlagen, Sprengstoff platzieren und die Zündschnur in Brand setzen. Dann bleiben vier bis fünf Minuten, um die Kollegen durch Schläge an die Wand zu warnen und sich in Sicherheit zu bringen, ehe die nächste Tonne Gestein laienhaft, aber gekonnt aus dem Berg gebombt, das Labyrinth erweitert, die Orientierung erschwert wird.

Glück hat, wer an der richtigen Stelle sprengt, Unglück, wer nichts findet. Wenn man nicht vorher stirbt, stirbt die Hoffnung zuletzt.
Es ist eine sich stets wiederholende Tätigkeit, ein Leben lang.
Monotonie der Mine.

Alltag unter Tage in Potosí

Es ist ein Alltag unter Tage, der weniger Tage zählt, als der anderer Menschen. Er zählt oft nur bis vierzig.
Es ist eine Gleichförmigkeit, die meist nur dann ein Licht am Ende des Tunnels kennt, wenn ein anderer Minero entgegenkommt.
Es ist ein dunkles Dasein in finsterer Einsamkeit.
Ein bedrückendes Leben, ein beengtes Leben.
Eines Tages mögen sie Silber finden …
… doch wann finden sie Glück?
Oder ist das dann Glück?

Unmenschliches Menschsein

In ihren Augen suche ich nach dem Ausdruck, der die Gefühle verrät, die ihre Worte nicht enthalten. Doch der Blick in ihre rot-geäderten Augen reicht nicht tiefer, als mein Blick in die Stollen vordringen kann: Die Mine spiegelt sich in ihren Augen. Ihre sie umfassende äußere Welt gleicht ihrer sie ausfüllenden inneren Welt. Die Welt hingegen, die sich außerhalb des Stollensystems vollzieht, ist ein ihnen fremdes Milieu. Sie versinken in der Tiefe, wenn die Sonne aufgeht, und tauchen auf, wenn die Sonne untergegangen ist. Wie Nachttiere in ihrer Höhle leben sie als sei die Hölle unter Tage ihr Zuhause. Im schnellen Tempo durchkriechen sie flink die Stollen, kennen jede Erhebung und jede Kurve, jedes Geräusch und jedes Gestein. Verspeist von dem Ungeheuer, das sie selbst nährt, unterernährt, sind die Mineros längst Teil der Mine und funktionieren­ in ihrem Rhythmus.

Menschlichkeit

Wo ist der Mensch in dem Menschen, der gerade vor mir steht?
In einem kleinen dankbaren Lächeln, als wir die mit Coca-Blättern gefüllte Tüte übergeben, erkenne ich ihn. Ich bin froh, doch verleiht dieser Moment dem Ganzen eine andere Dimension.
Unmenschliches Menschsein!

Weitere Infos auf:
Wikipedia
Deutschlandfunk

Aufstieg zu Machu Picchu: Geheimnisvoll und weltentrückt

Machu Picchu

Aufstieg Machu Picchu: Die beeindruckende Inka-Stadt liegt auf 2360 Metern auf einem schmalen Bergsattel zwischen den Gipfeln des Huayna Picchu und des namensgebenden Machu Picchu etwa vierhundert Meter über der Talsohle inmitten der Anden. 2010 habe ich die Kultstätte der Inka besucht.

Dieser Artikel ist ein Text aus meinem Buch Zwischen den Zeilen reisen – eine südamerikanische Reiseerzählung mit Impulsen für ein einfaches, nachhaltiges und gerechtes Miteinander in einer globalen Welt.

Übersicht

Aufstieg Machu Picchu

Laute, aufgeweckte Gespräche dringen durch die dünnen Zimmerwände und wecken mich um 3 Uhr morgens. Nur wenig später verlassen wir unsere Unterkunft und schleichen durch die dunklen Straßen, in denen andere Touristen durch das Leuchten der Taschenlampen ihre Anwesenheit verraten.
Sandiger Boden unter unseren Füßen, die Milchstraße über unseren Köpfen. Sie galt bei den Inka als Spiegelbild des heiligen Tals, durch das der Río Urubamba fließt. Sein kraftvolles Rauschen zieht uns zu sich und erfüllt jeden Winkel der gegenwärtigen Welt, als wir den Fluss überqueren. Auf der anderen Seite ist die Nacht wieder still. Aguas Calientes, die Servicestadt von Machu Picchu, liegt hinter uns und nur wenige Schritte später glaube ich nicht mehr an ihre Existenz.

Magische Welt und der Hiram-Bingham-Moment

Schwarze Nacht. Die Luft ist frisch und klar und der Himmel von einem gigantischen Sternenmeer überflutet. Im zarten Licht des Mondes tauchen allseits die markanten Silhouetten der steilen Berghänge auf, die von vereinzelten Schweifwolken berührt kraftvoll im unbewohnten Nichts schweigen.
Welch magische Welt …
Wir tauchen in den finsteren Wald ein und bewältigen den fast vertikalen Aufstieg über die unebenen, steinernen Treppenstufen, die die Inka einst errichteten.
Wir schreiten weiter, immer höher, immer steiler den Berg hinauf. Nach eineinhalb Stunden ist der Berg bezwungen. Als sich die Profile der ersten Inka-Gebäude­ vor dem mittlerweile farbenfrohen Himmel abzeichnen, fühle ich mich für einen kurzen Augenblick wie Hiram Bingham – dann sehe ich die Menschenmasse vor dem Eingangstor.
Vermutlich wollte jeder möglichst früh hier sein, um möglichst allein zu sein – früh sind wir alle, nur allein ist keiner.

Nach dem Aufstieg zu Machu Picchu: Stille und Zauber

Um sechs Uhr öffnet Machu Picchu seine Pforten und die Menschen verströmen sich in der alten Ruine, wie die Wassertropfen im Urubamba – sie alle sind da, aber sie alle gehen unter. Sie fügen sich dem großen Fluss und so ist es, als hätte ein jeder die alte Inka-Stätte in diesem Augenblick doch ganz für sich allein.
Grenzenlose Energie ist spürbar. Etwas Göttliches liegt in der Luft. Niemand kann erklären, warum die Inka diesen Ort für den Bau von Machu Picchu wählten – dieses Gefühl reicht, um zu verstehen.

Ungekannte Stille

Menschen dokumentieren ihre Videoaufnahme, Vogelzwitschern, Unterhaltungen auf Spanisch, Französisch, Hebräisch, Deutsch und Japanisch. Flussrauschen und Flussrauschen, das hinter hohen Felswänden verstummt. Die Geräusche werden von einer mächtigen Stille umhüllt und schließlich verschluckt, als verschließe diese sie in einem Vakuum der Töne. Die Welt schweigt in einem so reinen, überwältigenden Klang, für den selbst das geschriebene Wort zu laut scheint. Es ist eine Stille, die eine Legasthenie für Töne hat. Sie löscht alle Assoziationen für Laute aus dem Gedächtnis und schenkt die friedvollste Stille, die ich je vernommen habe.

Sonnenaufgang über Machu Picchu
Blick auf Huayna Picchu

Machu Picchu: Meisterwerk der Architektur

Etwa vierhundert Meter über der Talsohle, auf einem schmalen Bergsattel zwischen den Gipfeln des Huayna Picchus, des jungen Gipfels, und des namensgebenden Machu Picchus gelegen, ruht die beeindruckende Stadt auf 2360 Metern.
Sie gliedert sich in eine Ober- und in eine Unterstadt, die sich auf etwa eintausend Meter Länge und fünfhundert Meter Breite in vierzehn Sektoren gliedern. Ausschließlich auf Terrassen errichtet, konstruierten die Inka insgesamt mehr als zweihundert Gebäude, Paläste und Tempel. Die Anlage gilt jedoch nicht als vollendet. Trotzdem ist Stein in Stein alles verzahnt. Nichts fällt herunter.

Blick vom Huayna Picchu auf Machu Picchu

Steinkunst der Inka

Obwohl die Inka weder das Rad kannten noch über Zugtiere oder Eisenwerkzeug verfügten, schafften sie die enormen Granitblöcke­ aus den Steinbrüchen der Umgebung auf den Berg hinauf. Mithilfe von Tauen haben sie diese über weite Strecken gezogen. Millimetergenau­ bearbeitet, passen sie so perfekt ineinander, dass nicht einmal ein Haar dazwischen Platz fände.

Terrassenanlagen der Inka

Wasser: Ein heiliges Element

Die Stadtviertel sind zwar voneinander getrennt, aber durch Treppen und den Fluss des Wassers miteinander verbunden. Das Wasser war bei den Inka ein heiliges Element. Sie konstruierten Kanäle, die das aus den Bergen geleitete Wasser dreier Quellen auf sechzehn Brunnen verteilten. Jenes ausgetüftelte Bewässerungs­system funktioniert noch heute.

Terrassenanlagen

Den Bedarf an landwirtschaftlichen Erzeugnissen sicherten die Inka mithilfe der Terrassenanlagen, die sie mit der fruchtbaren Erde des Urubamba-Tals füllten. Auf kleinstem Raum erzeugten sie Ackerland in der Größe mehrerer Fußballfelder.
Weltentrückt, geheimnisvoll und zu großen Teilen unbegreiflich, ist Machu Picchu ein Meisterwerk der Stadtplanung und Architektur – und aus jedem Winkel ein überwältigender Anblick.

Machu Picchu Weltwunder

Immer mehr Busse treffen ein, die die Tagestouristen über die asphaltierte Serpentinenstraße zum Eingangstor hinaufchauffieren. Sie fahren im Stundentakt und immer wenn in Aguas Calientes ein Zug eingetroffen ist. Täglich besuchen etwa zweitausend Personen die Inkastadt. Seit 1983 zählt sie zum UNESCO-Welterbe und seit 2007 zu den neuen sieben Weltwundern.

Blick auf Machu Picchu

Kraftort Machu Picchu

Auf Machu Picchu ist die Magie in der Luft so real, als könne man sie beinahe greifen. Angeblich sollen sich die Kraftplätze alter Hoch­kulturen auf den Kreuzungspunkten der Gitternetzlinien unseres Planeten befinden – Machu Picchu ist ein solcher Kraftort.

Wir sind die letzten, die die verlorene Stadt der Inka an die Nacht überreichen, ehe der Mensch ihre Tore wieder schließt.
Dann bettet sich die Ruinenstätte im Schatten der Nacht.
Machu Picchu ist eine Wunderlandschaft.
Voller Magie und von Friede erfüllt.
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.
Märchenhaft, wenn es nicht so real wäre.

Machu Picchu im Abendlicht

Weitere Infos auf:
Wikipedia
Geo

Ein einfaches Leben: Zurück zum Wesentlichen

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Ein einfaches Leben zu führen scheint in unserer schnellen, digitalisierten und vollen Welt immer schwieriger zu werden. Auf meiner Reise durch Südamerika im Jahr 2010 bin ich dieser Einfachheit häufig begegnet. Ich fragte mich, ob nur ich durch mein Leben rase, oder ob auch mein Leben an mir vorbeirast und wir beide vielleicht so schnell sind, dass wir uns gar nicht begegnen. Ein paar Gedanken, die mir während einer Busfahrt durch die Anden durch den Kopf gingen:

Ein einfaches Leben

Ein einfaches Leben

Diese Einfachheit fragt beinahe vorwurfsvoll, warum ich so viel mehr benötige als die hier lebenden Menschen besitzen: Eine kleine Hütte aus Holz, eine Küche, ein Bett. Früchte und Gemüse aus dem eigenen Garten und eine Toilette am anderen Ende des Grundstücks. Die Aussicht steht im Kontrast zum kleinen Eigentum – unendliches Terrain. Von wenigen Augen betrachtet, von den betrachtenden Augen bewundert.

Außer Luxus scheint es alles zu geben.
Oder ist vielleicht gerade das der wahre Luxus?

Einfach leben und alles besitzen

Wenig zu haben und doch alles zu besitzen.
Einfach zu leben, aber den Lebenssinn nicht über die Materie zu definieren.
Abgeschieden zu leben, aber das Alleinsein aushalten können.
Leere zu erfahren, aber das Nichts-Tun als Tun empfinden können.
Den Tönen der Welt nicht zu lauschen, aber die innere Stimme zu vernehmen.
Frei zu sein von dem Streben nach Größerem und nicht Teil einer Gesellschaft zu sein, die Angst vor dem Versäumen hat und sich mit ihrem eigens auferlegten Leistungsdruck selbst erdrückt.

Die Dunkelheit nicht einfach durch einen Lichtschalter ausschalten zu können, aber im Einklang mit der Natur zu leben.
Ist das der größere Reichtum?
Das Tor der modernen Welt nur von außen zu betrachten und nicht durch es hindurchzuschreiten?
Bei Blicken in die ruhenden Gesichter am Straßenrand glaube ich, dass ein mittelloses Leben mit immaterieller Fülle wertvoller ist.

Einfach leben in der heutigen Zeit

Ohne E-Mails, die stillschreiend klagen, dass sie schneller beantwortet werden wollen – einzig im Gespräch mit sich selbst.
Keine Bürokratie – aber Träume in die Luft malen.
Kein materieller Überfluss – der Blick ist frei für das Wesentliche.
Kein Haschen nach Wind, kein Verschwenden der Stunden, kein Streben nach immer mehr, immer größer, immer schneller.
Keine endlosen To-Do-Listen, kein Überangebot, kein Zeitdruck.

Einfach sein, um zu Sein.
Einfachsein, um einfach zu Sein.
Ist das dann Langeweile? Sinnlosigkeit? Einsamkeit?
Oder Achtsamkeit, Erfüllung, der Sinn?

Doch was schreibe ich…
Inmitten der Einfachheit versteckt sich vermutlich die Armut, die ich nur von außen erlebe, aber nicht von innen erfahre.
Ich fühle mit, aber ich muss sie nicht spüren.
Ich bin mittendrin und doch nie mehr als eine Zuschauerin.
Wann immer ich möchte, kann ich die Bühne verlassen, denn ihr Labyrinth hält mich nicht gefangen. So ist es mir nicht erlaubt, die Faszination für die Ursprünglichkeit zu romantisieren …

Der Text ist ein Auszug aus meinem Buch Schlaflos in der Regenzeit

Musik zum Thema: Willy Astor – Einfach sein